Die 15-jährige Hanna Ernst aus Harsefeld zieht nach Ostfriesland, um für anderthalb Jahre in der höchsten deutschen Spielklasse zu kicken. Ihre Koffer sind gepackt für das Bundesliga-Abenteuer – ein Karriereplan ist nicht darin.
Mit ihrer bisherigen Mannschaft, der männlichen U15 des JFV A/O/B/H/H, ist Hanna Ernst gerade in die Landesliga aufgestiegen. Dem Erfolg folgt der Abschied. Sie habe das machen wollen, so lange es geht, sagt das schmale Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz und zieht die Beine aufs Sofa. Was sie meint: Kicken mit den Jungs. Gegen Jungs.Weil sie auf dem Schulhof immer gern Fußball gespielt hat, ging die Zweitklässlerin irgendwann zum Mädchentraining des TuS Harsefeld. Wenig später schnürte sie ihre Buffer aber in der Kabine der Jungs. “Das hat mehr Spaß gemacht”, sagt Hanna Ernst. Die E-Jugend des TuS feierte Kreismeisterschaft und Aufstieg, auch dank Torjägerin Ernst. In der höheren Spielklasse versetzte ihr Trainer sie in die Abwehr. Sie sollte mehr Körperlichkeit in ihr Spiel bringen, sich in Zweikämpfen gegen die Jungs behaupten. Das gelang der Leistungsträgerin, aber “unser Spiel war sehr eindimensional und wir haben oft verloren”.
Sie wechselt nach Ahlerstedt, spielt dort dreieinhalb Jahre lang mit und gegen Jungs, die ein Jahr jünger sind als sie. In der Saison 2020/21 gewinnt die Außenverteidigerin bis zur Corona-Zwangspause in der Bezirksliga nahezu jeden Zweikampf. In der laufenden Spielzeit setzt ihr Trainer Matthias Stemmann sie häufiger als Flügelstürmerin ein, “weil sie das auch in der Niedersachsenauswahl spielt”, sagt er. Technisch gehöre sie zu den Stärksten in seinem Kader, insbesondere Ballannahme und -mitnahme seien sehr gut. “Auch ihre Spielübersicht ist klasse. In Sachen Athletik allerdings würde es ab Sommer vermutlich eng werden.”
“Sie ist eine Rakete”
In der U15 des JFV trainieren und spielen sehr viele ehemalige Stützpunktspieler, fünf Jungs gehören aktuell gar zum Kader der Niedersachsenauswahl. Nach dem Aufstieg in die Landesliga, fürchtet Hanna Ernst, dürfte es nun noch schwieriger werden, mitzuhalten. Die Jungs holen mit Riesenschritten auf, auch die, die vor ein paar Monaten schwächer waren als sie. “Klar ärgert mich das, aber ich wusste ja, dass das passieren würde.” Die Frage, wo sie künftig kicken würde, nahm im Lauf der zurückliegenden Monate immer mehr Raum ein.
Im Sommer, als ihre Mannschaft pausierte, hat sie die Saisonvorbereitung mit den Oberliga-Frauen der SV Ahlerstedt/Ottendorf durchgezogen. “Wir hätten sie gern in der kommenden Saison bei uns gehabt”, sagt deren Trainer Maik Ratje. “Mit ihrer Dynamik und Zweikampfstärke ist sie eine Rakete.
“Hanna Ernst ist schnell, pfeilschnell. Eine Lichtschrankenmessung hat ergeben, dass sie schneller losrennt als 97 Prozent aller gleichaltrigen Mädels, die in Deutschland Fußball spielen. Neben ihren Einheiten im Verein trainierte sie bis zum Sommer am DFB-Stützpunkt der Junioren in Stade (die wöchentliche Talentförderung endet mit dem Übergang in die U15) und alle 14 Tage am Juniorinnen-Stützpunkt in Rotenburg. Außerdem nimmt sie an Auswahllehrgängen des Niedersächsischen Fußballverbands teil. Im Herbst hat sie den Norddeutschen Länderpokal mit der U16 gewonnen. Ebenfalls vor Ort: Trainer von der Sportvereinigung Aurich, deren U17-Juniorinnen seit 2018 in der Staffel Nord/Nordost der dreigleisigen Bundesliga spielen und aktuell den sechsten Tabellenplatz unter 14 Mannschaften belegen.
Gegner mit klanghaften Namen
“Wir hatten Hanna Ernst für unsere Flügelpositionen schon länger auf dem Zettel”, sagt Aurichs Cheftrainer Stefan Wilts. “Im Probetraining hat sie total überzeugt.” Weil die Harsefelderin im Jahr 2006 geboren ist und damit aktuell zum jüngeren B-Mädchenjahrgang gehört, kann sie in der Nachwuchsbundesliga in der laufenden und der kommenden Spielzeit eingesetzt werden. Auf dem Platz begegnen ihr dann so klanghafte Namen wie Turbine Potsdam, Hamburger SV, SV Werder Bremen, VfL Wolfsburg, 1. FC Union Berlin oder Hannover 96.
In fünf Wohngemeinschaften bietet die Sportvereinigung talentierten Spielerinnen, die nicht in der Region um Aurich leben, ein Zuhause für die fußballerische Ausbildung. Betreuer unterstützen die Jugendlichen im Alltag. Ziel sei es, möglichst bald mit der Seniorinnen-Mannschaft des Vereins, die aktuell in der Landesliga der Frauen spielt, ein, zwei Ligen aufzusteigen, um den Talenten eine Perspektive zu bieten, erzählt Stefan Wilts. Hanna Ernst wird ein Gymnasium besuchen, das mit der SpVg kooperiert. Es folgen Athletiktraining am Montag, Mannschaftstraining am Dienstag und Donnerstag, mittwochs Techniktraining. Ein junges Leben im Flutlicht.
Viele Fußballer und Fußballerinnen stellen sich irgendwann, zumindest für ein paar Stunden, vor, wie es wäre, Profi zu werden. Hanna Ernst träumt nicht davon. Sie kann sich gut vorstellen, nach der Rückkehr aus Aurich das Trikot der A/O-Frauen zu tragen. “Aber B-Juniorinnen-Bundesliga kann ich nur jetzt spielen.”Sie tauscht ihr Kinderzimmer in Harsefeld gegen ein WG-Zimmer an einem Sportplatz in Aurich. 200 Kilometer entfernt von zu Hause und ihren Freunden. Mit einem straffen Zeitplan und einer WG-Küche, in der sie künftig selbst kochen muss. “Ich kann das gar nicht”, sagt sie und grinst. Am 15. Januar steigen Hanna Ernst und ihre Mannschaftskolleginnen in ein Flugzeug. Das Bundesliga-Abenteuer beginnt in einem türkischen Trainingslager.
Quelle: Stader Tageblatt/FuPa | von Leonie Ratje